04.11.2024 – Gesundheit & Psyche
Ask the expert: Wie kann ich mit meinen Ängsten bei MS umgehen?
Herr Adelberg, warum haben wir Menschen Angst und wovor?
Angst kann sehr unterschiedliche Ursachen haben. Im Grunde geht es aber immer um die Angst vor Kontrollverlust und das Gefühl, einer Situation ausgeliefert zu sein. Viele Menschen geben in der Praxis an, Angst vor dem Ungewissen zu haben. In Wahrheit können wir aber gar keine Angst vor dem Ungewissen haben. Wir können nur Angst vor dem haben, was wir bereits kennen. Zum Beispiel vor Schmerzen oder Einschränkungen unserer Freiheit. In diesem Wissen liegt ein Schlüssel zur Lösung von Ängsten: in der Erkenntnis, dass Zuversicht das Gegenteil von Angst ist. Also stellt sich die Frage, wie wir in vermeintlich ungewissen Situationen mehr Zuversicht bekommen können.
Problematisch wird es, wenn sich aus der Angst eine Störung entwickelt. Wie häufig beobachten Sie Angststörungen bei Menschen mit einer chronischen Erkrankung?
In meiner Praxis habe ich oft mit Menschen zu tun, die an chronischen Erkrankungen leiden. Die Angst vor einem Rückfall oder drohenden Schmerzen ist ein ständiger Begleiter und damit eine große Einschränkung der Lebensqualität. Es gibt verschiedene Ansätze in der Psychotherapie, die die Lebensqualität bei chronischen Erkrankungen deutlich verbessern können. Meine Erfahrung zeigt, dass es entscheidend ist, was ein Mensch glaubt. Und zwar nicht oberflächlich in seinem Bewusstsein, sondern was er in der Tiefe des Herzens wirklich für wahr hält. Daraus ergibt sich ein sehr pragmatischer Behandlungsansatz.
Nämlich?
Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) bietet mit dem „ABCDE Modell“ hierfür ein gutes Werkzeug. Der Buchstabe A steht für ein auslösendes Ereignis, B für Beliefs (Glaubenssätze), C für Konsequenz, D für Diskussion und E für Effekt. In der Therapie wird bewusst gemacht, dass unsere Gedanken – und die damit verbundenen inneren Selbstgespräche – Gefühle erzeugen. Diese können zu Ängsten oder problematischen Verhaltensweisen führen, wie zum sozialen Rückzug. Ändert ein Mensch seine Gedanken in Bezug auf eine bestimmte Situation in der Gegenwart oder der erwarteten Zukunft, so müssen sich auch die Gefühle dazu verändern und Ängste reduzieren lassen. Die Technik besteht darin, einen Gedanken auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Eine Patientin denkt beispielsweise: „Ich werde nie wieder unbeschwert leben können.“ Die psychologische Fachkraft stellt nun die Frage: „Können Sie absolut sicher wissen, dass Sie nie wieder Momente der Unbeschwertheit erleben werden?“ Diese Frage muss die Patientin verneinen, denn sie kann nicht sicher wissen, dass es unmöglich ist, jemals wieder unbeschwerte Momente erleben zu können. Anschließend folgt die Umkehrung des Gedankens in sein Gegenteil. „Ich werde wieder Momente der Unbeschwertheit erleben können!“ Hierfür sollen dann Beispiele von der ratsuchenden Person gefunden werden, die für sie auch nachvollziehbar sind. Dies ist ein sehr wichtiger Punkt, denn er hebelt den Glaubenssatz im Unbewussten aus und macht den Weg für Zuversicht frei. Und da Zuversicht den Optimismus enthält, der der Hoffnung fehlt, ändert sich auch die Erwartungshaltung und damit das „C“, also die Konsequenz. Dieser Vorgang ist das „D“, also das Diskutieren des Gedankens, und das „E“ ist der Effekt, also die kognitive Umstrukturierung. Auch wenn das sehr komplex erscheint, ist es sehr pragmatisch in der Praxis. Wir müssen einfach prüfen, ob das, was wir denken, wirklich wahr ist, oder ob wir einem ungeprüften Angstgedanken unterliegen, der unser Wohlbefinden beeinträchtigt.
Ist es ratsam, Angst machenden Situationen aus dem Weg zu gehen oder sollte man sich ihnen lieber stellen?
Machen Sie sich bewusst, wie Sie als kleines Kind in die Welt gekommen sind: mit Neugier! Alles wollte entdeckt und ausprobiert werden. Doch was ist dann passiert? Wir haben gelernt, dass das Leben nicht nur freundlich und uns wohlgesonnen sein kann, sondern auch gefährlich und angsteinflößend. Viele Situationen wurden plötzlich mehrdeutig. Ist der Hund vom Nachbarn wirklich freundlich oder wird er mich beißen? Ist es dann richtig, nie wieder einen Hund zu streicheln oder wäre es besser, das immer wieder neu zu prüfen? Vielleicht bellt er auch nur und ist sonst ganz lieb. Vielleicht beißt er auch nur dann, wenn ich mich falsch verhalte. Wenn ich also lerne, mich in Bezug auf eine mehrdeutige Situation richtig zu verhalten, müsste ich doch auch gute Ergebnisse bekommen! Doch was ist denn richtiges Verhalten? Psychologisch gesehen ist es das Überprüfen meiner Gedanken und Erwartungen, denn Erwartungen können sich selbst erfüllende Prophezeiungen erzeugen. Wenn also Menschen Kraft ihres Bewusstseins in der Lage sind, ihre Erwartungen zu verändern, dann müsste es auch möglich sein, neue und gute Erfahrungen zu machen. Und dies gilt für alle Lebenssituationen. Auch für den eigenen Körper und das seelische Gleichgewicht.
Wie sollten Angehörige richtig mit der Angst eines oder einer MS Betroffenen umgehen?
Angehörige sollten genauso ihre eigenen Gedanken in Bezug auf die zu behandelnde Person überprüfen. Wie steht es um meine eigene Zuversicht? Was denke ich über diese Erkrankung? Auch hier ist es ratsam, das ABCDE Modell anzuwenden.
An wen sollte man sich wenden, wenn man seine Ängste allein nicht in den Griff bekommt?
In jedem Fall ist es empfehlenswert, professionelle therapeutische Hilfe auch dann zu nutzen, wenn es einem gutgeht. Psychohygiene ist genauso wichtig wie körperliche Hygiene. Ich selbst würde nur zu einer psychologischen Fachkraft gehen, die Authentizität, Offenheit und Zuversicht ausstrahlt und ganz individuell auf mich eingehen kann.
Dipl.-Psych. Bernhard Adelberg, November 2024.